Kathrin Tillmanns ist Fotografin. Dieses Handwerk hat sie von Grund auf erlernt. Als freie Künstlerin liegt ihr Schwerpunkt auf der Befragung des Mediums. Ihr künstlerisches Arbeiten beruht auf dem „Arbeiten mit Fotografie“. Das Wort „mit“ ist wörtlich zu nehmen: Gefundene Fotografien vergangener Zeiten, die zum Zweck einer privaten Erinnerung oder offiziellen Dokumentation aufgenommen wurden, werden gesucht oder durch glückliche Zufälle entdeckt und lösen bei Kathrin Tillmanns einen Forschungsgedanken aus.

Da sind die „37 Frauen“, eine Arbeit für den Sitzungssaal im Mönchengladbacher Rathaus. Die Fotos stammen aus dem Archiv der Firma Foto Vogel aus Mönchengladbach. Es wurde 1995 geschlossen, alle Unterlagen zu den Porträtierten gingen verloren. Die Frauen wurden namenlos. Die Porträts nimmt Tillmanns zum Anlass, nachzuforschen, inwieweit Frauen in der Führungsebene der Kommunalpolitik Mönchengladbachs in der Zeit nach 1800 präsent waren. Und kommt zu dem Ergebnis, dass sie extrem unterrepräsentiert sind. Mit der Arbeit „37 Frauen“ holt sie die Frauen in Form von Fotografien gleichen Formats ins Rathaus – als stille Beobachterinnen und Zuhörerinnen. Sie macht die Frauen und das Thema ihres Nicht-Vorhandenseins in der Politik sichtbar. Still und subtil.

In einem Aufsatz über Kinderarbeit in einer Mönchengladbacher Weberei entdeckt Kathrin Tillmanns die Fotografie einer Gruppe von jungen Arbeiterinnen und Arbeitern in einer Textilfabrik aus dem Jahr 1905. Das Foto ist im Archiv der Stadt aufbewahrt. Auch in diesem Fall sind sowohl der Fotograf als auch die Abgebildeten unbekannt. Kathrin Tillmanns wählt zwei junge Männer und eine junge Frau aus der Gruppe aus, fotografiert sie ab und vergrößert sie um ein Vielfaches. Jedes Bild besteht aus einer Reihe von zusammengefügten Einzelbildern.

Die Abgebildeten sind extrem verpixelt – ohne Abstand von ihnen zu nehmen, sind sie nicht erkennbar. Ein reizvoller Widerspruch: Kathrin Tillmanns taucht tief in die sozialen Aspekte der historischen städtischen Textilgeschichte ein, geht nah heran, um Zusammenhänge begreifen zu können. In der künstlerischen Umsetzung dann bringt sie Abstand zwischen die Menschen und sich sowie die Betrachtenden, betont den Abstand von 120 Jahren Zeitgeschichte, betont die Diskrepanz zwischen den jungen Menschen, die heute das Carl Brandts Haus, benannt nach dem 1833 geborenen Textilfabrikanten, in ihrer Freizeit als Leseparadies besuchen und jungen Menschen, die damals für den Lebensunterhalt ihrer Familien mitarbeiten mussten. Eintauchen und Abstand nehmen, um sehen zu können – beide Bewegungen führen zur Sichtbarkeit von Vergessenem.

Kathrin Tillmanns taucht in Vergangenheiten ein, nimmt Themen aus dem ursprünglichen Kontext heraus, um sie in einen gegenwärtigen Kontext zu betten – mit Erkenntnisgewinn. Arno Bergmann war ein Hobby-Naturforscher, der vor 100 Jahren nahe des Wohnorts der Künstlerin akribisch Falter zählte, fotografierte, dokumentierte und züchtete. Ein Zufall spielte ihr die Aufzeichnungen und Fotografien in die Hände. Daraus entwickelte sie das Kunstprojekt „Falter“. Mit der Wiederaufnahme seiner Bilder lenkt sie den Blick gleichermaßen in die Vergangenheit wie die Gegenwart, verknüpft ein leidenschaftliches Hobby mit brennenden aktuellen Fragen wie Artenschutz und Artensterben. Auf poetische Weise.

Sigrid Blomen-Radermacher