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mehrteilige fotografische Arbeit (Auszug)
Format: variable dimensions

fotografie // 

Blinder Seher.

Blindsein beschreibt im Allgemeinen einen Zustand des Mangels. Es ist die nicht gegebene Möglichkeit etwas sehen zu können. Es ist eine Behinderung im Wahrnehmen, eines oder beider Augen. Blind sein bedeutet Mangel an Wahrnehmung, Mangel etwas sehen, wie gleichsam etwas erkennen zu können. Blind sein bedeutet aber auch, die Gabe zu besitzen Dinge anders sehen zu können, auf eine andere Art und Weise Dinge wahrzunehmen. Die alltägliche, ununterbrochene Flut an zu Erblickendem, die das Auge trifft, fällt weg. Das Blicken nach Außen kehrt sich um, zu Gunsten eines nach Innen. Der Leib wird zu Grenze des Sehens, zur Be-schreibung eines Innerhalb und Außerhalb. Die Andersheit im Sehen liegt im Nicht-sehen. Eine Andersheit, Welt wahrnehmen zu können. Nicht das Auge berührt das Gegenüber, sondern Wahrnehmung findet auf einer Differenzebene des Sehens statt. Der Blinde verfügt im Allgemeinen über eine erweiterte Ausprägung seiner anderen Sinne, wie Hörsinn und Tastsinn. Das Tasten des Auges wird durch die haptische Mög- lichkeit des Berührens, durch Integration aller Hautsinne und der Tiefensensibilität im Wahrnehmen ersetzt. Berührung findet in einer leiblichen Direktheit statt, die durch das Auge als Mögliches nicht bestehen kann. Der Kontakt des Augenblicks ist hier kein Mögliches, sondern wird zur erweiterten Berührung des Gegenüber, wie auch der Berührung des eigenen Selbst. Die Wahrnehmung dessen erfährt zum einen eine differente Direktheit, als auch eine Dehnung in ihrer Zeitlichkeit. Die Dauer eines Augenblicks, eines Lidschlages, findet im hapti-schen Berühren so nicht statt. Es ist eher ein Verweilen, ein Innehalten, welches hier Wahrnehmung bestimmt.

Quelle: Kathrin Tillmanns, „Blinder Seher“
in „Dieter Fuder – Der Funke der Semantik: Designtheorie als Erkenntnismethodik“ Verlag Rasch 2013